Die Weihnachtsfeier des Schachklubs Niederbrechen – eine kleine Geschichte

(nicht immer ganz ernst zu nehmen aber man munkelt es hat sich vieles fast genauso zugetragen)

Samstag, 17:30 Uhr. Es ist ein ganz normaler Samstag – zumindest auf dem Rest der Welt. Am Festplatz, in einem unscheinbaren Backsteingebäude, finden sich Gestalten ein, deren äußere Erscheinung zwischen „hochgradig intellektuell“ und „gerade im Zeugenschutzprogramm untergetaucht“ oszilliert. Der Schachverein hat hier im linken Flügel seinen Sitz, Wand an Wand mit der örtlichen DRK-Rettungswache. Eine Nachbarschaft, die sich im Laufe des Abends noch als strategischer Vorteil erweisen könnte.

17:40 Uhr. Über dem Vereinsheim liegt die bleierne Schwere eines hessischen Dezemberabends. Im Dachgebälk herrscht eine trügerische Stille. Die dort ansässigen Hornissen haben sich – ähnlich wie der reguläre Spielbetrieb – in die Winterpause zurückgezogen. Eine Art Kältestarre, die sie nur gelegentlich durch ein rachsüchtiges Summen unterbrechen, wenn die Kaffeemaschine versucht, gegen ihre Verkalkung anzukämpfen.

17:42 Uhr. Andreas betritt den Raum und tastet nach dem Lichtschalter. Ein kurzes Klicken, dann erstrahlt das fahle Licht der Deckenleuchten. Die Elektroinstallation stammt noch aus einer Ära, als man Kabel nach dem Prinzip „wird schon irgendwie funktionieren“ verlegte – was erklärt, warum das Licht der Schräge gelegentlich im Takt der Kaffeemaschine flackert. Matthias, der diese Besonderheit bereits beim letzten Mannschaftsabend studiert hat, zündet sich prophylaktisch eine Filterlose an. Atmosphäre muss man sich hier selbst schaffen.

18:14 Uhr. Offizieller Beginn der Weihnachtsfeier. Der Vorsitzende Andreas eröffnet das Buffet. Neuzugang Andrea beobachtet das Geschehen mit der fassungslosen Miene einer Zoologin, die erstmals ein unbekanntes Rudelverhalten studiert. In der Ecke steht Matthias, eingehüllt in eine Wolke aus Filterlosen und dem Dampf seiner zehnten Tasse Kaffee, während er leise den Rhythmus von „666 – the number of the beast“ klopft – ein Überbleibsel des legendären Putztages, an dem Iron Maiden die neuronale Struktur des Vereins nachhaltig umgeformt hat.

18:42 Uhr. Das Buffet-Trauma. Das kulinarische Highlight lässt nicht lange auf sich warten. Die Erwartungshaltung im Raum ist groß, genährt durch die Legenden des letzten DSAM-Turniers aus Bad Wildungen. Doch beim Anheben der Warmhalte-Deckel macht sich Ernüchterung breit.

Wo die Denksport-Elite auf die sagenumwobene „Pizza Pamela Anderson“ gehofft hatte – eine Kreation, die in Bad Wildungen durch zwei strategisch platzierte Spiegeleier und eine Olive Weltruhm erlangte – herrscht in Niederbrechen schwäbische Sparsamkeit

Es gibt Würstchen…

19:00 Uhr. Andreas, der erste Vorsitzende, lehnt sich zufrieden zurück. Nach Jahren an der Vereinsspitze hat er ein System entwickelt, das so zuverlässig läuft wie die Aktenordnung im Finanzamt – nur mit mehr Bier und gelegentlichen Iron-Maiden-Einlagen. Seine Amtsführung wird im Verein nicht infrage gestellt. Wer sowohl Steuererklärungen als auch Matthias‘ Heavy-Metal-Obsession gleichermaßen wertschätzt, hat das Zeug zum Langzeit-Vorsitzenden.

19:10 Uhr. Karl-Heinz (92) beendet seinen dritten Teller Nudelsalat. Er ist heute ausschließlich in beratender Funktion für die Verpflegung anwesend. Währenddessen diskutieren Torsten und Andi über die optimale Schaumkrone ihres vierten Weizenbiers, während Markus – Bandmitglied und Glühwein-Liebhaber – versucht, die Akustik des Raumes durch das Verschieben von Gläsern zu optimieren.

19:40 Uhr. Madeleine rückt sich ihre schwarzen Bluse zurecht. Andrea flüstert Matthias im Schutz einer dichten Tabakwolke zu, ob Madeleine schon lange im Verein sei. Matthias nickt langsam und stößt einen Ring grauen Rauches aus.„Madeleine“, raunt er, „ist die personifizierte Mutti des Vereins. Aufgrund des chronischen Damenmangels im Schachsport hat sie die Mitgliederliste bereits im Alleingang abgearbeitet. Sie hatte hier schon zig Ehemänner“

20:00 Uhr. Beginn des Blitzturniers. Die Turnierleiter Andreas F. und Karim strahlen eine Ruhe aus, die normalerweise nur in buddhistischen Klöstern oder bei Beamten im mittleren Dienst zu finden ist. Sie ignorieren standhaft Sebastian, der trotz seiner makellosen Saisonbilanz bereits jetzt den Abstieg der 1. Mannschaft und das unvermeidliche Matt in drei Zügen gegen jeden Gegner prophezeit.

20:35 Uhr. Ein Spieler, der gerade spielfrei hat und dessen Leidenschaft für Brühparrkeulen nur noch von seiner Abneigung gegen Servietten übertroffen wird, nähert sich dem Topf. Ein gezielter Griff zum Wiener Würstchen führt zu einer lustigen Anekdote. Ein Kommentar schneidet wie ein Fallbeil durch den Raum:

„Dein Würstchen tropft!“

21:15 Uhr. Die psychologische Grenzerfahrung. An Brett 2 trifft Heinz auf Madeleine. Madeleine trägt, wie üblich, ein Ensemble aus Tiefschwarz, das selbst Lichtquanten verschluckt. Die Schachfiguren, die ohnehin unter akutem Farbmangel leiden und eher als „sehr dunkles Grau“ einzustufen sind, verschmelzen vor Heinz’ Augen zu einer amorphen Masse. Mitten in der Phase höchster Konzentration entfährt es ihm:

„Boa, die schwarze Dame nervt!“

Ein jähes Schweigen legt sich über den Raum. Die anwesenden Ex-Ehemänner ziehen kollektiv die Köpfe ein. Andrea hält den Atem an. Madeleine zieht lediglich eine Augenbraue hoch – ein Blick, der in der Vergangenheit bereits drei Scheidungsverfahren und unzählige Partieverluste durch bloße Einschüchterung eingeleitet hat. Es bleibt ungeklärt, ob das Endspiel oder sie gemeint war. Matthias nutzt die Stille, um im Hintergrund überraschend textsicher „Six! Six, six! The Number of the Beast!“ zu krächzen. Niemand widerspricht.

21:40 Uhr. Die akustische Kriegsführung. Während sich Heinz noch von seinem verbalen Ausrutscher erholt, entfaltet sich an Brett 3 eine neue Dimension der psychologischen Kampfführung. Madeleines Gegner der bereits auf Verlust steht – hebt plötzlich den Kopf.

„Entschuldigung“, sagt er mit zitternder Stimme, „aber könnten Sie vielleicht… also, Ihre Schuhe… die sind etwas laut.“ Die Stille, die daraufhin eintritt, übertrifft noch die vom „schwarze Dame“-Zwischenfall. Madeleine lässt ihren Blick langsam vom Brett zum Gegner wandern.

Jemand flüstert Andrea zu: „Der sollte lieber sein Testament machen.“

Madeleine steht auf. Sehr langsam. Klack. Klack. Klack. Sie geht zum Kaffeetisch, gießt sich in aller Ruhe eine Tasse ein, kehrt zurück. Klack. Klack. Klack. Setzt sich. Zieht. Matt in drei Zügen.  „Zu laut“, murmelt sie und nippt an ihrem Kaffee. „Wie lächerlich.“

22:40 Uhr. Clemens, der Topscorer der 1. Mannschaft und Jugendtrainer, zieht das Tempo an. Neben ihm spielt Arne, der zweite Neuzugang der Saison, mit der konzentrierten Präzision eines Mannes, der beruflich Steuererklärungen optimiert. Sein Gegner versucht verzweifelt, die Bauernstruktur zu analysieren, während Arne bereits drei Züge vorausdenkt – vermutlich unter Berücksichtigung aller steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten. Die Geschwindigkeit der beiden ist so hoch, dass die Kaffeetasse von Jonas Burggraf, dem ruhigen Gegenpol der Nachwuchsarbeit, durch den Luftzug leicht erzittert. Dirk hingegen hat an Brett 4 bereits nach dem dritten Zug ein Remis angeboten, um sich in Ruhe der Analyse des Weizenbier-Bestandes zu widmen. Der Spieler mit dem Cowboyhut ist ebenfalls eingetroffen; er trägt das Kopfkleid mit der Würde eines Mannes, der weiß, dass man in Niederbrechen erst dann ernst genommen wird, wenn man mindestens ein bizarres Accessoire vorweisen kann.

23:15 Uhr. Während die Konzentration bei den meisten Teilnehmern nur noch durch massiven Glühwein-Einsatz aufrechtgehalten wird, schlägt die Stunde von Jonas. Jonas ist bekannt dafür, dass er Partien nicht spielt, sondern sie seziert – vorzugsweise zwischen zwei und vier Uhr morgens, wenn das menschliche Gehirn normalerweise in den Standby-Modus schaltet.

23:30 Uhr. In der hinteren Ecke des Vereinsheims, hinter einem Stapel vergilbter Schach-Bände aus den Achtzigern, steht Clemens‘ persönliches Feldlager. Ein Feldbett. Militärisch-grün, zusammenklappbar, mit einer Decke, die aussieht, als habe sie bereits den Ersten Weltkrieg miterlebt.

„Warum zur Hölle hast du ein Feldbett hier?“, fragt Andrea mit jener Mischung aus Faszination und Entsetzen, die alle Neuzugänge irgendwann durchlaufen.

Clemens blickt kurz von seinem Brett auf, wo er gerade seinen Gegner in Zeitnot spielt. „Vorbereitung ist wichtig“, sagt er knapp, bevor er einen Bauern mit chirurgischer Präzision vorstößt. „Wenn man das Weihnachtsblitzturnier gewinnen will, muss man alles durcharbeiten. Alle Eröffnungen. Alle Endspiele. Von Freitagabend bis Samstagmittag.“

Andrea starrt auf das Feldbett. Irgendwo in ihrem Hinterkopf revidiert sie sämtliche Vorstellungen davon, was „Vereinsleben“ bedeutet. Das ist kein Hobby. Das ist ein Lebensentwurf.

00:10 Uhr. Irgendjemand erinnert sich plötzlich an die legendäre Wette zwischen David und Dirk. Worum es genau ging, ist bis heute nicht abschließend geklärt – vermutlich um eine Behauptung, die mit ebenso großer Überzeugung wie mangelnder Beweislast vorgetragen wurde. Der Verlierer musste sich in den Bach stellen. Dirk verlor. Und während andere Wetten dieser Art im Reich der Theorie enden, setzte Dirk Maßstäbe für konsequente Regelbefolgung, indem er – ohne Diskussion, aber mit sichtbarem Frösteln – tatsächlich im Bach stand. Seitdem gilt die Episode im Verein als stillschweigender Referenzpunkt für Ernsthaftigkeit, wenn jemand sagt: „Das ist keine Spaßwette.“

00:30 Uhr. Die Turnierleiter Andreas F. und Karim lehnen sich entspannt zurück. Jonas beginnt bereits im Kopf mit dem Verfassen des Spielberichts für die Homepage – ein literarisches Werk, das in Sachen Dramatik und Detailfülle vermutlich nur noch vom Alten Testament übertroffen wird. Er analysiert gerade, ob der Tropf-Zwischenfall beim Würstchen als „unvorhergesehene Störung der Konzentrationsphase nach Paragraph 12“ gewertet werden muss.

02:05 Uhr. Die finale Phase. Während im Dachgebälk die erste Hornisse aufgrund der einsetzenden Schnappatmung von Matthias – der mittlerweile beim Refrain von „Aces High“ angekommen ist – betäubt aus dem Nest fällt, geschieht an Brett 1 eine interessante Partie:

Trotz seiner lautstarken Überzeugung, dass „seine Stellung nicht ideal“, „die Bauernstruktur etwas durcheinander“ und „die Partie wohl schwierig zu halten“ sei, schiebt Sebastian seine verbliebenen Figuren mit einer chirurgischen Präzision über das Feld, die Martin kurzzeitig seinen österreichischen Fatalismus vergessen lässt. Martin starrt fassungslos auf das Brett, während Sebastian mit jedem Zug seine Bedenken äußert, nur um Sekunden später den entscheidenden Mattangriff einzuleiten.

02:20 Uhr. Die Glühwein-Krise. Markus starrt fassungslos in den leeren Topf. „Wir haben ein Problem“, verkündet er mit der Ernsthaftigkeit eines Mannes, der gerade die Apokalypse kommen sieht. „Der Glühwein ist alle.“

Ein Raunen geht durch den Raum. Torsten und Andi unterbrechen ihre Weizenbier-Diskussion. Selbst Matthias lässt seine Filterlose sinken. Jemand murmelt: „Das DRK ist gleich nebenan. Die haben bestimmt noch was.“

„Die haben Infusionen“, antwortet Karl-Heinz trocken, während er seinen vierten Teller Nudelsalt beendet. „Keine Lösung.“

In diesem Moment erklingt aus der Ecke die eiserne Regel des Vereins, gerufen von einer Stimme, die bereits drei Weizenbier über dem Limit liegt: „Der Erste verliert!

Es ist unklar, ob damit das Blitzturnier oder der Kampf um die letzten Glühwein-Tropfen gemeint ist. Vorsichtshalber stürzen sich alle aufs Buffet.

02:30 Uhr. Die Siegerehrung. Die Turnierleiter Andreas F. und Karim treten vor das versammelte Restaufgebot. Sie strahlen eine Ruhe aus, die suggeriert, dass sie soeben nicht sechs Stunden Blitzschach, sondern eine erfolgreiche Inventur in einem Zentrallager für Dichtungsgummi moderiert haben. Andreas F. räuspert sich: „Eigentlich sollten wir ja gegen den Abstieg kämpfen“, grinst er in die Runde, „aber das ist heute eh kein Thema – und aufgrund unseres aktuellen zweiten Tabellenplatzes auch extrem unwahrscheinlich. Es sei denn, wir beschließen in den nächsten Wochen kollektiv, nur noch mit verbundenen Augen zu spielen“, bevor er das Ergebnis verkündet.

Nachdem die ersten drei Plätze genannt wurden – allesamt Spieler aus der eigentlich abstiegsgefährdeten ersten Mannschaft – bricht schallendes Gelächter aus. Andreas F. hebt abwehrend die Hände: „Ja, ich weiß. Die Mannschaft, die gegen den Abstieg kämpfen sollte, räumt gerade unser Turnier ab. Vielleicht sollten wir die Tabelle nochmal überprüfen.“

Karim verkündet die Sonderpreise. Der Preis für „Die schwärzeste Dame“ geht erwartungsgemäß an Madeleine, die ihn mit einem Blick entgegennimmt, der andeutet, dass auch dieser Titel hart erkämpft wurde. Torsten und Andi teilen sich den Preis für „Den höchsten Weizenbier-Konsum bei gleichzeitiger Spielfähigkeit“ – eine Leistung, die selbst Karl-Heinz mit anerkennenden Nicken würdigt. Matthias erhält eine Sonderauszeichnung für „Musikalische Untermalung“ – überreicht in Form einer neuen Packung Filterloser. Er nimmt sie schweigend entgegen und summt leise „The Trooper“. Der Preis für „Schnellstes Remis-Angebot“ geht an Dirk, der bereits aufgestanden ist, bevor sein Name vollständig ausgesprochen wurde.

03:15 Uhr. Der Aufbruch. Der Vorsitzende Andreas schließt die Kasse, während Bernd noch einmal wehmütig auf den leeren Würstchentopf blickt. Dirk hat sich mit seinem letzten Remis des Abends zufrieden in seinen Mantel gehüllt, und der Mitspieler mit dem Cowboyhut korrigiert den Sitz seiner Krempe für den Heimweg durch den hessischen Nebel, als gelte es, eine Rinderherde durch das Brecher Becken zu treiben. Andrea tritt hinaus in die Kälte. Sie hat an diesem Abend viel gelernt: Über flackernde Elektroinstallationen, die musikalische Früherziehung durch britischen Heavy Metal und die Tatsache, dass eine „nervende schwarze Dame“ in Niederbrechen niemals nur eine Spielfigur ist, sondern eine existenzielle Bedrohung für das seelische Gleichgewicht von Vereinsmitgliedern. Im Fenster des Vereinsheims sieht man noch das fahle Licht von Jonas‘ Laptop. Er schreibt bereits am Vorbericht für den nächsten Spieltag. Er beginnt mit den Worten: „Trotz der prekären Hornissensituation, des eklatanten Würstchen-Zwischenfalls und Sebastians statistisch unwahrscheinlichem Erfolgslauf blickt die Erste Mannschaft mit gewohntem Ernst auf die kommende Begegnung…“ Draußen, auf dem dunklen Parkplatz, hört man Matthias ein letztes Mal, während er seine Filterlose im Wind schützt: „Scream for me, Niederbrechen!“